Christian Thürmer-Rohr — Gesichter des Schweigens. Der Feminismus und das Kassandra-Syndrom
Es fehlen die Worte und wir haben zuviele davon (Susan Sontag)
Vor 30 Jahren hatte Christa Wolf mit ihrem Kassandra-Stoff den damaligen Zeitgeist aufgenommen und vielen aus dem Herzen gesprochen. Das Kassandra-Syndrom hatte viele mit der Erwartung beflügelt und beunruhigt, dass Frauen, wenn sie endlich den Mund aufmachen, „die Wahrheit“ sagen würden. 10 Jahre später provozierte Barbara Sichtermann ihre Leser/innen mit der Bemerkung: jetzt, wo Frauen alles sagen dürfen, seien die Männer erleichtert. Denn was sie zu hören bekämen, unterscheide sich nichtwirklich von dem, was sie von sich selbst gewohnt seien. Wenn Frauen also gar keine andere Welt anvisierten, wäre das den Frauen auferlegte Jahrtausende alte Schweigegebot ja ganz unnötig gewesen.
Ein Rückblick zum Schweigen und zum Sprechen, der nicht einfach frühere Positionen revitalisieren will. Was zu revitalisieren ist, ist vielmehr das Nachdenken über einen Feminismus, der heute manchen veraltet erscheint, für den niemand eine allgemeingültige Definition zur Hand hat und dessen Probleme zugleich „zu den interessantesten und produktivsten Fragen zu Beginn dieses Jahrhunderts“ gehören (Judith Butler).